Germany – Erfurt

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Erfurt, Am Anger

Datum: Juli 2012
Tisch: 45 Meter
Team: Stuff Klier, Johannes Volkmann
Film: Nadja Smith & Marina Miller
Foto: Christian Georg Fuchs, Johannes Volkmann
Partner: Theater Waidspeicher: Sibylle Tröster, Christian Georg Fuchs

Erfurt, die Landeshauptstadt von Thüringen, wurde nach der Wende in vollem Umfang renoviert. Die Dichte an Cafés sucht ihresgleichen. Die Fußgängerzone strahlt im neuen Glanz des Kommerzes.

Reisebericht von Johannes Volkmann

Es machte sich große Erleichterung breit, als die Passanten erfuhren, dass der Tisch nur um seiner selbst Willen da war.

Nachdem die Geschäfte geöffnet hatten, füllte sich die Stadt erstaunlich schnell. Der Tisch stand direkt vor einem großen Kaufhaus, mitten auf dem Anger. Er wurde sofort sehr gut angenommen. „Gemeinschaft“ stand auf einem der Teller und eine Frau erklärte mir in sächsischer Sprache, dass es zu DDR-Zeiten viel mehr Zusammenhalt gegeben habe. „Heimat ist in dir drin oder nirgendwo“, sah ich einen alten Man schreiben, der sicher den Zweiten Weltkrieg miterlebt hat. „Die Möglichkeit, Fragen zu stellen“, stand auf einem anderen Teller und eine ältere, kleine Frau erzählte mir über ihre Angst, damals vor der Wende bei jedem Telefonat abgehört zu werden. 

Viele Menschen gesellten sich an den Tisch. Aber bald wurde deutlich, dass einige von ihnen etwas anderes im Sinn hatten. Uns wurde bewusst, dass wir uns in der allgemeinen marktwirtschaftlichen „Kampfzone“ des öffentlichen Raums befanden. Ein kleines Grüppchen von Menschen warb großflächig mit Transparenten für ein

neues Medikament und nutzte die Anziehungskraft des Tisches für sich. Verwirrt fragten die Leute, was an der Pharmaindustrie unbezahlbar wäre? Eine andere Gruppe kam mit Werbegeschenken, die sie um den Tisch herum verteilte. Bunt gekleidete Maskottchen machten Werbung für die Neueröffnung eines Geschäftes. Auffallen, anpreisen, verkaufen – die „Blüten“ der Konsumgesellschaft zeigten sich. Wir klärten auf, redeten viel mit den Passanten, bei denen sich eine große Erleichterung breit machte, als sie erfuhren, dass der Tisch nur sich selbst genüge war. 

Die Beteiligung war enorm, das Tischtuch füllte sich mit Kommentaren. „Gerechtigkeit für alle Wesen“, und ein junger Mann fügte hinzu, „Wir leben doch nicht alleine auf diesem Planeten.“ Auf einem anderen Teller stand „Ein reines Gewissen“, und ich musste an Hannah Arendt denken und der Frage nach der eigenen Verantwortung für das Denken und Handeln.

Fünf bunt gestylte Mädchen diskutierten miteinander und schrieben dann das Wort „Ich“. Die Suche nach dem Individuum wird in Deutschland großgeschrieben und meine Gedanken schweiften nach Palästina – dort hatte dieses Wort keiner in den Teller geschrieben. Und auch nicht diesen Kommentar: „Turboshoppen mit meiner Minimaus.“ 

Sicher ist, dass Erfurt in der Marktwirtschaft angekommen ist. Sicher ist auch, dass die Menschen das alleine nicht glücklich macht, das verrieten ihre Teller.