India – Mumbai

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Mumbai, Kala Ghoda Viertel

Datum: Februar 2011
Tisch: 40 Meter
Team: Clemens Künneth, Johannes Volkmann, Susanne Winter
Film: Broka Herrmann, Marc Nordbruch
Foto: Clemens Künneth, Johannes Volkmann
Partner: Goethe-Institut / Max Mueller Bhavan Mumbai: Dr. Marla Stukenberg, Jayashree Joshi, Manjiri Palicha, Tanushree Kulkarni

Im Februar 2011 errichteten wir den Tisch im Distrikt Kala Ghoda, 500 Meter entfernt vom Gate of India.

Reisebericht von Johannes Volkmann

Ich musste erklärten, dass ich die Dinge nur aufzeigen, sie aber nicht lösen kann.

Ist es naiv, ohne Wissen und Erfahrung über das Land mit über einer Milliarde Einwohner mit einem Durchschnittseinkommen von 60 Euro im Monat (laut Hindustani Times) in eine Stadt zu fahren, in der schätzungsweise 19 Millionen Menschen leben, dort einen Tisch mitten im Zentrum zu errichten, um nachzufragen: Was ist unbezahlbar? Was transportiert diese Frage dort? Werde ich als europäischer Spinner abgestempelt? Wie weit trägt meine innere Überzeugung, die gesamte Erde als „Skulptur“ zu betrachten und alle Handlungen als „Abdrücke“ auf dieser Skulptur zu sehen, angesichts der Lebensumstände in diesem Land?

Und ich denke mir: Wenn es nicht darum gehen kann, Vorurteilen Glauben zu schenken, sondern die einzelnen Menschen dahinter zu sehen – dann macht es Sinn, diese Menschen nach ihrer Meinung zu fragen.

Der Tisch sollte schon am Vorabend aufgebaut werden. Die Straße K. Dubash Marg wurde extra für dieses Straßenfest gesperrt. Anders wäre es in dieser dicht besiedelten Metropole nicht denkbar gewesen, einen 40 Meter langen Tisch im öffentlichen Raum zu errichten. In einer Stadt, in der die Straßen von früh bis spät bevölkert sind und nachts zur Schlafstätte von Tausenden werden.

Um 22 Uhr sollten die Tische angeliefert werden und die Straße frei sein vom Verkehr. Aber nichts davon war zu sehen. Das Leben tobte wie gewohnt. Keiner wusste etwas Genaues, aber alle waren entspannt – nur wir nicht. Um Mitternacht wurden die Tische geliefert, aber an einer völlig verkehrten Stelle abgeladen. Langsam begannen auch wir uns zu entspannen, denn uns wurde klar: Hier laufen die Dinge einfach anders und wir können nur mit den Dingen gehen, sonst reiben wir uns auf. 

In den frühen Morgenstunden stand der Tisch dann tatsächlich. Sobald er aufgebaut war, wurde er zur Lagerstätte. Die Inder, die sonst auf einem Pappkarton auf der Straße saßen, nutzten den Komfort des Tisches. Erst als wir das Papier ausrollten, wurde klar, dass hier gleich etwas passieren würde. Immer mehr Neugierige versammelten sich. So viele fragende Gesichter blickten mich an … und mir wurde in diesem Moment klar: Hier muss ich einen Anfangspunkt setzen. Kurzerhand stieg ich auf einen Stuhl. Nun war ich einen Kopf und einen Stuhl größer als die kleinwüchsigen Inder und hielt vor den ca. 200 Menschen in Englisch eine Ansprache und erklärte, was es mit dem Tisch auf sich hätte. Mein letzter Satz war noch nicht verklungen, da wurden mir schon eifrig die Stifte aus den Händen genommen. Die Inder hatten verstanden und wollten anfangen. Alle 100 Stifte waren sofort verteilt. 

Schon nach einer Stunde waren alle Teller voll geschrieben, die Beteiligung war enorm. Wir tauschten die Tellerpapiere aus, sodass weitergeschrieben werden konnte.

„Stop Corruption“ war immer wieder zu lesen und ich dachte an das Erlebnis unseres Filmteams, das bei Dreharbeiten in einem Polizeiauto abtransportiert worden war. Es sollte viel Geld zahlen, sofort. Eine halbe Stunde fuhren sie durch die Stadt und verhandelten. Das Team blieb cool und zahlte nur etwas Geld und kam wieder frei. „Keep the city clean“, so die Aussage vieler. Es waren viele Menschen aus der Mittelschicht am Tisch, die den mangelnden Umweltschutz beklagten. 

Das hatte ich in Mumbai nicht erwartet. Die Abenddämmerung brach an und die Straße füllte sich immer mehr. Ich schaute nach den Stiften – sie lagen alle am Tisch und das trotz der vielen bettelnden Frauen und Kinder. „Smile a while“, das Lächeln ist in Indien allgegenwärtig. Lächelst du und wackelst dabei etwas mit dem Kopf, dann wird das Lächeln erwidert. Ein schönes Ritual, das sofort Verbindung schafft.

Wir kamen in Kontakt mit einer Familie, die seit 40 Jahren an einer Straßenecke, 50 Meter von unserem Tisch entfernt, lebt. Am Abend kamen sie tatsächlich zum Tisch: die Oma mit ihren zwei Töchtern und Kindern. Sie standen etwas ratlos vor den Tellern, deshalb half eine Studentin bei der Übersetzung. Die Oma erzählte, sie hätten gerne ein Dach über dem Kopf. Das wolle sie aufschreiben. Als sie der Studentin den Text diktieren wollte, entschied sie sich doch für etwas anderes: „Bildung für die Kinder, damit sie eine Chance haben.“

Ihre Tochter, auf dem Arm ein Baby, fragte mich: „Was soll uns das bringen?“ Ich stutzte. Ich musste erklären, dass ich Dinge nur aufzeigen, sie aber nicht lösen kann. Das Filmteam zeichnete diese ganze Szene auf. Zwei Wochen später liefen diese Bilder auf ARTE. Überraschenderweise meldete sich tags darauf ein Zuschauer bei mir. Er wolle, dass Kunst auch real etwas bewirkt und er bot die Patenschaft für die Kinder an, damit sie auf eine Schule gehen können. Welch schöne Idee!


Reisebericht 2012 von Johannes Volkmann

Ist es uns möglich die indische Familie wieder zu finden, um die angebotene Patenschaft verbindlich zu regeln?

„So etwas braucht Indien. Die Schulung der Kreativität der Kinder und die Zusammenarbeit jenseits der gesellschaftlichen Schichten.“, das sagte Manjiri, die Koordinatorin der Bildungsabteilung des Goethe-Institutes, als sie die 45 Kinder aus vier verschiedenen Schulen in der großen Theaterhalle begrüßte. Wir waren erneut nach Mumbai eingeladen, diesmal um eine Papiertheater-Inszenierung mit Kindern zu entwickeln. Als Weiterführung von Unbezahlbar, ging es nun um die Frage: „Wie wollt ihr leben?“

Als wir nun die Schüler in ihren unterschiedlichen Schuluniformen in den Kreis baten, so wie wir Europäer es gewohnt sind zu Beginn eines Workshops, und sie sich noch auf den Bühnenboden setzen sollten, wurde klar: Hier herrschen andere Gewohnheiten. „Man setzt sich nicht auf den Boden, das machen nur die Armen und der Lehrer steht eigentlich vorne“, so die allgemeine Meinung. Am dritten Tag der Probenarbeit war es dann um so erfreulicher, dass die Schüler der verschiedenen Schulen selbstständig zu den Instrumenten griffen und in der Pause Musik machten. Unser Team bestand aus einem indischen und zwei deutschen Musikern – und einer großen Papierrolle. Diese war die Bühne für das szenische Spiel und in drei Tagen sollte die öffentliche Aufführung stattfinden. 

Parallel begleitete uns eine ganz andere Frage bei unserem Aufenthalt in Mumbai. Ist es uns möglich die indische Familie wieder zu finden, um die durch unseren letzten Besuch angebahnte Patenschaft verbindlich zu regeln? Wir streiften durch das Stadtviertel, gingen zur bekannten Straßenecke – und das Glück war mit uns. Die alte Frau erkannte uns sogar wieder. „Unbezahlbar ist Bildung, damit es meine Kinder mal besser haben als ich“, so war ihre Aussage vor eineinhalb Jahren gewesen. Mit Handzeichen vereinbarten wir ein konkretes Treffen für den nächsten Tag.

Die alte Frau kam tatsächlich, gemeinsam mit ihrer Tochter, die damals schwanger war, nun ihr Kind in den Armen hielt – erneut schwanger. Drei weitere Kinder von ihr sprangen um uns herum. Wir hatten sie am Abend zuvor bereits beim Musik machen auf der Straße kennen gelernt. Es war eine ungewöhnliche Situation entstanden, mitten auf einer großen Verkehrsinsel, umringt von hupenden Taxis. Untermalt von der Musik unseres Akkordeons, sangen wir mit ihnen ein italienisches Lied und wurden so zum Ereignis für viele Passanten. 

Nun standen wir mit Übersetzern vom Goethe-Institut vor ihnen und die Verwunderung über unser Angebot war ihnen ins Gesicht geschrieben. Wir überlegten gemeinsam. Es gab tatsächlich eine Slum-Schule, in der das Mädchen schon einmal gewesen war. Das Busticket dorthin konnten sie sich jedoch nicht leisten. Wir entschieden, ein externes Konto über das Goethe-Institut einzurichten, auf das die Familie mit entsprechenden Quittungen zugreifen konnte. In ihren Augen war zu lesen, dass sie das Angebot verstanden hatten. Trotzdem blieb bei uns der Zweifel, ob Menschen, die keine derartige Struktur kennen, eine solche aufbauen können. Es lag an der Familie, diese Möglichkeit zu nutzen.

Tags darauf kauften wir am Vormittag Schulmaterial und Schuhe für die Kinder der Familie, dann war am Abend die Premiere. „Wie wollt ihr leben?“ – die Frage an die Kinder nach ihren persönlichen Vorstellungen und Idealen wurde zum Abbild der vorhandenen gelernten Lebensauffassung in Indien. Und ich erkannte, dass meine Suche nach dem selbstbestimmten, individuellen Denken das Abbild meiner Lebensauffassung ist.